Sind wir Menschen draussen unterwegs, bewegen wir uns im Lebensraum der Wildtiere. Wir sind in der Natur zu Besuch. Aber verhalten wir uns auch wie anständige und respektvolle Besucher:innen? Unsere Handlungen können die Tiere stören und ihre Energie kosten. Rücksichtnahme ist daher wichtig, um die Wildtiere zu schützen und ihren Lebensraum zu bewahren.
Im Winter die Wege verlassen und quer durch den Wald rennen?
Besser nicht. Wildtiere flüchten über eine viel grössere Distanz, wenn unser Verhalten nicht vorhersehbar ist.
Vorhersehbare Bewegungen
Sind wir auf signalisierten Wanderwegen oder ausgewiesenen Skitourenrouten unterwegs, gewöhnen sich die Wildtiere an unsere Anwesenheit. Unsere Bewegungen und unsere Laufrichtung sind für die Tiere vorhersehbar und die Situation ist ihnen bekannt. Das ändert sich, wenn jemand den gewohnten Weg verlässt. Studien, die Murmeltiere und Gämsen beobachteten, zeigten deutlich: Das Verhalten der Tiere bei «Wegwanderern» im Vergleich zu «Querfeldwanderern» verändert sich markant. Beim «Querwanderer» reagierten die Tiere heftiger und nahmen grössere Fluchtdistanzen auf sich. Auf den «Wegwanderer» reagierten die Tiere weniger stark. Durch die kürzere Fluchtdistanz konnten die Tiere schneller weiteräsen (fressen).
Die gefährliche Flucht
Das Wichtigste für alle Wildtiere im Winter ist, so wenig Energie wie möglich zu gebrauchen und so wenig Wärme wie möglich zu verlieren. Eine Flucht im Schnee verbraucht ein Vielfaches an Energie wie die normale Fortbewegung. Da im Winter kaum Nahrung vorhanden ist, können die Tiere die Energiereserven nicht wieder auffüllen.
Schlanke Beine bieten keinen Vorteil
Der Rothirsch zum Beispiel kann seine äussere Körpertemperatur senken und seinen Herzschlag verlangsamen, um Energie zu sparen. Er verringert die Durchblutung der Beine, die kalt und starr werden. Muss der Hirsch in diesem Energiesparmodus flüchten, erfordert dies eine enorm schnelle Aufheizung des Körpers. Zudem tauchen seine schlanken Beine bei jedem Schritt tief in den Schnee ein, was das Vorwärtskommen sehr anstrengend macht. Der Energieverlust ist enorm. Zwingen wir Hirsch, Schneehase & Co mit unserem Verhalten nicht zur Flucht, haben sie eine grössere Überlebenschance.
Skiabfahrt durch den Wald, ohne vorher die empfohlene Route zu kennen?
Keine gute Idee. Wildtiere reagieren heftig, wenn sie überrascht werden und wenn mit grosser Geschwindigkeit auf sie zugesteuert wird.
Ruhe für die Natur
Im Gurnigelgebiet hat der Kanton Bern Wildschutzgebiete ausgewiesen, um die Wildtiere vor Störungen zu schützen. In diesen Rückzugsgebieten gelten im Winter spezifische Regeln für die Besucherinnen und Besucher. Zum Beispiel müssen diese Gebiete von den Skifahrern umfahren werden und Wanderungen sind nur auf den bezeichneten Routen erlaubt. Je nach persönlicher Einstellung können diese Einschränkungen als frustrierend empfunden werden; oder aber sie lösen Dankbarkeit aus für die stille Natur, die auf den ausgewiesenen Wegen erlebt werden darf.
Huhn im Iglu
Im Wildschutzgebiet Gurnigel-Gantrisch ist das selten gewordene Birkhuhn zuhause. Es ist perfekt an die kalte Jahreszeit angepasst: Die Füsse sind mit Federn bedeckt und bei jeder Körperfeder wächst zusätzlich eine kleine Daunenfeder, die den Körper wärmt. Im Winter gräbt es sich eine Schneehöhle in den lockeren Schnee auf der Nordseite der Hänge. In so einer Schneehöhle bleibt die Temperatur konstant bei 0° Celsius.
Zittern in der Kälte
Werden die Birkhühner aufgescheucht, verlassen sie fluchtartig ihr warmes Iglu. Sie fliegen auf die Wipfel der Bäume und harren dort in Wind und Wetter aus. Erst nach mehreren Stunden trauen sie sich wieder auf den Boden zurück. Durch die Anstrengung und durch die Kälte auf den Bäumen verlieren die Birkhühner überlebenswichtige Energie. Beachten wir die Wildschutzgebiete, stören wir Birkhahn, Schneehase & Co nicht noch zusätzlich.
Hunde frei durch den Wald rennen lassen?
Lieber nicht im Winter und im Frühling. Untersuchungen haben gezeigt, dass Wildtiere doppelt so früh und dreimal so weit flüchten, wenn ein freilaufender Hund den Wanderer begleitete, als wenn kein Hund dabei war.
Heftige Reaktionen durch Hunde
In verschiedenen Experimenten wurde gezeigt, dass Wildtiere heftiger auf Hunde als auf Menschen reagieren. Ist ein Schneeschuhläufer mit Hund an der Leine unterwegs, reagieren die Wildtiere früher und flüchten weiter weg, als wenn kein Hund dabei ist. Wird der Hund freilaufen gelassen, erhöhen sich diese beiden Werte nochmals erheblich.
Zeit fehlt
Bei Störungen steigt die Stresshormon-Konzentration an. Je heftiger die Störung, desto länger dauert es, bis das Wildtier wieder seiner gewohnten Tätigkeit, wie zum Beispiel dem Fressen, nachgehen kann. Schneehase & Co verlieren also nicht nur Energie auf der Flucht, sondern auch wertvolle Zeit, um den Magen füllen zu können.
Mit knurrendem Magen unterwegs
Bei vielen Wildtieren wird der Magen in der Winterzeit umgebaut, damit die qualitativ schlechtere Winternahrung aufgenommen werden kann. Andere Tiere brauchen sehr viel Ruhe für die Verdauung: Der Schneehase zum Beispiel frisst Grünzeug, kann aber keine Vitamine und Nährstoffe daraus aufnehmen und so scheidet er das Grünzeug als weichen, breiigen Kot während der Ruhepause aus. Diesen besonderen Kot und frisst es er nochmals, jetzt kann er die Nährstoffe verwerten. Bei Störungen muss der Hase flüchten, noch bevor er seine Nahrung zum zweiten Mal aufnehmen konnte. Somit sind alle Nährstoffe für den Hasen verloren.